Artikel im Achtsamen Leben 2012

Einige Anmerkungen zur häuslichen Übungspraxis

 

Immer wieder tauchen die Fragen auf: Muss ich meditieren oder andere Übungen machen, um weiter zu kommen? Wie „schlimm“ ist es, wenn ich nichts übe? Jetzt übe ich schon so lange und wieso hatte ich immer noch keine Offenbarung? Was soll das alles bringen?

Erst einmal grundsätzlich, Du bist kein wertvollerer oder besserer Mensch im Sinne einer Wertung, wenn Du regelmäßig übst. Es ist Deine freie Entscheidung, was Du mit Deiner Zeit und Deinem Leben machst, denn Leben ist in erster Linie Erfahrung und niemand kann letztendlich sagen, dass eine bestimmte Erfahrung wertvoller ist, und wer kann schon sagen, welche Erfahrung eine Seele in diesem Leben machen möchte. Aus meiner Sicht (Erfahrung) möchte jede Seele das Leben in seiner Vielfalt durch die Inkarnationen hindurch erfahren, also das Leben in seiner Gesamtheit durch eigene Erfahrungen erfassen. So wählen wir uns jeweils die Eltern und das entsprechende Umfeld, um diesem Erfahrungswunsch zu entsprechen.

Wenn Du nun das Bedürfnis nach mehr Bewusstheit, Wachheit, Zufriedenheit, Gelassenheit, Klarheit und Präsenz hast, dann geht es nicht ohne eine entsprechende Praxis. Eine solche Praxis macht aber nur Sinn, wenn Du sie wirklich freiwillig tust, weil sie Deinem Sehnen nach Klarheit und Bewusstheit entspricht. Das heißt jeden Tag neu die Ausrichtung stärken, „ich will es tun, auch wenn es mir schwer fällt, die Disziplin aufzubringen, auch wenn es mir schwer fällt, nicht in Geschichten, Phantasien, reaktive Emotionen etc. abzudriften. ICH PRAKTIZIERE FREIWILLIG!!!!“

Sobald sich, wie häufig nach einer motivierten Phase, die bewusst oder unbewusst vorgestellten Ergebnisse nicht oder nur unregelmäßig einstellen, lauert die Gefahr, dass sich aus einem „ich will“ ein „ich muss oder ich soll“ entwickelt, begleitet von Gefühlen wie Unwillen, Enttäuschung und schlechtem Gewissen etc. Dann ist es an der Zeit, sich wieder zu fragen, worum geht es mir, was will ich und was bin ich bereit, dafür zu geben? Auch kann es hilfreich sein, sich eine Pause zu erlauben um dann wieder mit neuer Entschiedenheit zu beginnen. Wenn Du nicht freiwillig praktizierst, nicht freiwillig Bewusstheit üben willst, sondern es machst, weil Du denkst „Ich muss!!“,  wird der innere Widerstand Dich auf verschiedene Art und Weise boykottieren.

 

Jede Praxis dient in erster Linie dazu, im JETZT anzukommen, in der bewussten und beobachtenden Wahrnehmung zu sein und aus der permanenten inneren und äußeren Reaktion auszusteigen, wach und bewusst innezuhalten, nach und nach immer mehr in das  wahrnehmende Bewusstsein einzutauchen. Das ist bei der stillen Meditation so, beim Atmen nach Jeru Kabal, bei der Chakrenatmung, bei Wahrnehmungsübungen, beim Yoga, Feldenkrais etc.  Du übst also, wach und anwesend zu bleiben und wahrzunehmen, immer wieder dahin zurückzukehren. Und das ist die Hauptausrichtung, denn klare Einsichten, Erfahrungen etc. sind Geschenke, die man nicht planen, heranziehen, erarbeiten kann, die kommen oft, wenn Du es am wenigsten erwartest.

Ritualisierte Übungen zu einer bestimmten Zeit sind eine Möglichkeit von Praxis. Eine andere ist der Alltag, d. h. Du übst in Deinem ganz normalen Leben, Dich innerlich wahrzunehmen, gleichzeitig möglichst bewusst voll zu atmen und aus Bewertung und sofortiger Reaktion auszusteigen. Du praktizierst das Innehalten, richtest die Aufmerksamkeit immer wieder nach innen und entspannst Dich in die Wahrnehmung. Du beobachtest, wie Du worauf innerlich reagierst, aber ohne sofort im Außen in Reaktion zu gehen. Du atmest durch und schaust, ob Du statt zu kämpfen, zu verurteilen, anzuklagen etc. bei Dir bleiben kannst, Dich innerlich wahrnehmend, und ohne den anderen abzuwerten; selbst klar sagen kannst, was Dein Anliegen ist, wo Du innerlich stehst, was Deine Grenze ist, Dein Bedürfnis, Dein Empfinden etc.. Das ist ebenfalls eine sehr fruchtbare Praxis, die Dich der Bewusstheit entgegen trägt. 

Voraussetzung für beide Praxiswege ist die Bereitschaft, Dich davon zu verabschieden, gegen das Leben, wie es erscheint, anzukämpfen; es ist der Abschied davon, darauf zu beharren, dass es anders sein müsste. Das Leben ist vollkommen in seiner Vielfalt, seiner Unterschiedlichkeit, seiner gleichzeitigen Unvollkommenheit, es umfasst alle Erscheinungsformen; wie auch in der Natur sichtbar, ist im Leben alles enthalten. Dort  in der Natur kannst Du wahrnehmen, dass alles Wandlung ist, alles stete Veränderung, perfekter Kreislauf. Und ich kann mich Byron Katie nur anschließen, wenn sie sagt, dass alles, was ist, richtig ist, nur richtig sein kann, sonst wäre es nicht.

 

Damit kommen wir zur zweiten Ebene der Übungspraxis, dem Annehmen, dem Mitgefühl zuerst sich selbst und dann auch anderen gegenüber, echtes Mitgefühl für andere braucht echtes Mitgefühl für sich selbst. Das bedeutet, zu üben, Dich Dir selbst freundschaftlich zuzuwenden, Verständnis für Dich aufzubringen und alles, was Du in Dir findest, zu Dir zu nehmen. Das bedeutet, aus dem Kampf mit Dir selbst auszusteigen, aufhören, Dich zu verurteilen, zu beschimpfen, Unrealistisches von Dir zu erwarten, oder von Dir selbst zu fordern, dass Du ein „idealer“ Mensch wirst. Mitgefühl bedeutet, Dich mit Deiner Person zu versöhnen, sehen was Deine Lichtseiten und was Deine Schattenseiten sind und beides liebevoll akzeptieren. Wahrnehmen, dass Du tust, was Du kannst, Dich dafür anerkennen und Dich selbst ermutigen, weiterzugehen. Mitgefühl bedeutet auch, zu sehen, wie schwer dieser Bewusstseinsweg manchmal ist, wie viel Entschiedenheit und Kraft es braucht, immer wieder dorthin zurückzukehren und wie viele Fallen es auf dem Weg gibt. Mitgefühl bedeutet, Dich immer wieder an die Hand zu nehmen. Mitgefühl bedeutet, Dir selbst Liebe zu geben, Hinwendung zu Dir.

 

Welche Form Du nun auf der praktischen Ebene wählst, bleibt Dir überlassen und wird vielleicht auch immer wieder wechseln. Wichtig ist, dass es Deine eigene Wahl ist.

Gleichzeitig ist es hilfreich, sich von den Erwartungen und Vorstellungen, was dabei herauskommen soll, zu verabschieden. Die Früchte sind meist ganz anders als die Vorstellung und fallen irgendwann vom Baum, Du hast nicht in der Hand, wann sie fallen, wie groß sie sind, wie viele es sind und welche Früchte es sind. Aber ich kann Dir versichern, dass es Früchte für Dich gibt, und wenn sie fallen, stellt sich die Frage, ob Du sie wertschätzen kannst oder auf die Früchte anderer schielst.

Du kannst nur Dein eigenes Leben gehen, entfalten, Deine Individualität akzeptieren und anerkennen. Dein Leben ist einzigartig, wie das aller Menschen, nicht mehr und nicht weniger. Und zu Deinem Leben gehören auch Deine individuellen Erfahrungen, Wege und Früchte.

Praxis ist eine wunderbare Sache, siehe oben, wird aber nicht verhindern, dass unbequeme Gefühle Dich besuchen, dass das Leben Dir Herausforderungen bringt, dass es anders läuft, als Du es Dir wünschst, dass die Menschen anders sind, als Du sie haben willst etc.. Aber Praxis kann Dir helfen, Hand in Hand mit dem Leben zu gehen, Dich von der Existenz unterstützen zu lassen und in Resonanz zu all dem Schönen und Wunderbaren in Dir selbst und in den Erscheinungsformen des Lebens zu gehen. Du wirst vielleicht nicht erleuchtet werden, aber mehr Frieden mit Dir selbst könnte doch auch eine leckere Frucht sein, oder??

 

In diesem Sinne wünsche ich Euch eine stete Praxis. 

Aramaiti  Nowak